Teil 3 der 1001 Waldgeschichten: Essenz
Auf den Berghängen über dem Dorf flüsterten die grünen Riesen in der Morgendämmerung, um die Dorfbewohner nicht zu wecken. Die Vögel im Wald hielten von derlei Rücksichtnahme nicht viel und zwitscherten so laut sie nur konnten.
So stellte die Frau auf dem Wanderparkplatz am Waldrand unbemerkt ihr Fahrrad ab und stapfte mutig in den menschenleeren Wald. Als sie den weichen Waldboden unter den Füßen spürte, atmete sie tief durch. Sie ließ die Schultern sinken und begann zu schlendern. Den Kopf voller Gedanken aus dem turbulenten Alltag aus Familie und Job, Verantwortungen und Verpflichtungen schritt sie dahin. Ob ihre Familie bereits ihren Zettel gefunden hatte? „Brauche eine kurze Auszeit. Bin im Wald. Komme vor zehn Uhr zurück“, so dachte sie an den kommenden Tag, die vergangene Woche, das bevorstehende Familienfest. Der Strom an Gedanken schien kein Ende zu nehmen.
Da fuhr ein Windstoß durch das Blätterdach und ließ die Blätter freundlich rascheln. Die Frau richtete den Blick nach oben in die Baumkronen. Sie betrachtete das Lichtspiel aus Himmel und Blättern und genoss den Wind auf ihren Wangen. Jetzt spürte sie das weiche Federn des Waldbodens unter ihren Füßen. Einem spontanen Impuls folgend, zog sie ihre Schuhe aus. Den Blick auf den Waldboden gerichtet, fand sie einen weichen Moosteppich am Wegesrand und streichelte zärtlich darüber. Eine große Freude und Leichtigkeit überkam die junge Frau.
Beschwingt schlenderte sie weiter durch den Wald. Sie kannte den Rundweg nur zu gut. Dies war nicht ihre erste Auszeit im Wald, denn sie kam regelmäßig hierher, um ihre innere Ruhe zu finden. Auch heute fand die junge Frau ihre innere Ruhe mit Leichtigkeit. Der letzte Gedanke war gedacht, übrig blieben reine Gefühle und der Genuss des Lebens im Hier und Jetzt. Und nachdem der Wald ihre Gedanken gefiltert hatte, tropfte die Essenz, die die junge Frau ausmachte, auf den Wanderparkplatz, stieg auf ihr Fahrrad und ließ das Geflüster der grünen Riesen hinter sich.